War da was? Sie ist nicht Weltmeisterin geworden, nicht einmal eine Medaille hat sie gewonnen. Trotzdem war ihre Soloflucht im Straßenrennen der Frauen bei der WM in Hamilton (Kanada) wohl die beeindruckendste und emotionalste Einzelleistung.
Jeannie Longo steht kurz vor ihrem 45. Geburtstag, hat also ein Alter erreicht, das die meisten ehemaligen oder noch aktiven Radsport-Kokommentatoren von Eurosport noch vor sich haben. 3 Tage zuvor ist sie schon 6. im Zeitfahren geworden. Die Zeit der großen Siege scheint entgültig vorbei zu sein. Warum fährt sie also noch? Es muss ihr wohl Spaß machen und abgesehen davon ist zumindest in Frankreich nach wie vor keine besser. Fährt sie überhaupt für Frankreich? Schon, aber vor allem fährt sie für sich selbst. Keine Unterstützung aus der Nationalmannschaft wird ihr zuteil - das Verhältnis war wohl schon immer etwas angespannt. Auch das Renngerät der kleinen 48-Kilo-Athletin ist das wohl speziellste Rad im Peloton: eine extrem niedrige 26-Zoll-Maschine mit ultrakurzem Hinterbau, Aero-Laufrädern und einer immensen Sattel-zu-Lenker-überhöhung - sieht verdächtig nach Zeitfahrmaschine alten Stils aus. Der einzige Schriftzug am weißen Rahmen ist der Name der Besitzerin.
Das Rennen über 10 Runden á 12 km verläuft typisch für eine WM. Jeder Fluchtversuch wird gekontert und zunichte gemacht, keine kommt mehr als ein paar Meter weg. Dazwischen werden viele Blicke gewechselt, aber nicht wirklich schnell gefahren. Hinten fallen an jeder schnell genommenen Steigung Fahrerinnen raus und geben das Rennen meist auf. Es wird ein Ausscheidungsfahren, das auf eine Sprintankunft der besten hinausläuft. In der vorletzten Runde wird im ersten der beiden Anstiege die Situation mal wieder unübersichtlich. Keine will Führungsarbeit leisten, es werden abschätzende Blicke gewechselt und das Tempo verschleppt. Das ist der perfekte Augenblick für eine, die nicht mehr auf der Rechnung steht. Unbemerkt von den Konkurrentinnen und der Motorradkamera tritt die Altmeisterin aus dem Hintergrund an und wechselt auf die andere Straßenseite. Offenbar steht dieses Szenario nicht im taktischen Konzept der Favoritinnen - alle bleiben unschlüssig sitzen und der Blick vom Hubschrauber zeigt, dass Jeannie Longo binnen Sekunden über 50 Meter zwischen sich und die anderen bringt, die dann schließlich reagieren und zögerlich die Verfolgung aufnehmen. Nach 2 Minuten hat sie 15 Sekunden Vorsprung, das sind bei den vorgelegten 40 km/h gut 150 Meter.
Jeannie Longo auf der Flucht (Foto: CandianCyclist.com).
Auch Petra Rossner am Mikrofon bei Eurosport kann es nicht fassen, was da geschieht. Sie ist (wie vermutlich auch die meisten Zuschaer) aus guten Gründen der Überzeugung, dass auch diese Flucht nicht lange dauern kann angesichts der Klasse der Verfolgergruppe. Andererseits erinnert sie sich mit einem gewissen Unbehagen an ihre eigene erste WM-Teilnahme im Jahre 1987, wo Longo mit genau dieser Taktik zum dritten Mal in Folge Weltmeisterin wurde. Aber das Unwahrscheinliche nimmt seinen Lauf, der Vorsprung wächst auf bis zu 25 Sekunden und schmilzt selbst auf den Abfahrten nicht nennenswert zusammen. Jeannie Longo tut, was sie am besten kann - Zeitfahren. Sie verzieht keine Miene, schaut sich nicht um und gibt alles. Der Oberlörper liegt völlig horizontal über dem Rad, selbst im Wiegetritt. Die Verfolgerinnen haben sie ständig in Sichtweite, arbeiten aber nicht konsequent zusammen. Der Vorsprung schmilzt mehrfach bedenklich zusammen, doch immer wenn die Ausreißerin zum Greifen nahe scheint, setzt wieder taktisches Geplänkel ein, so dass das Loch wieder größer wird. Immerhin ist das Tempo nun so hoch, dass die Verfolgergruppe auseinander reißt und auf 5 Fahrerinnen zusammenschmilzt, darunter die amtierende Weltmeisterin Susanne Ljungskog aus Schweden. Alle anderen haben schließlich keinerlei Chance mehr.
Doch schließlich begreifen die 5 Verfolgerinnen den Ernst der Lage, denn sie bekommen langsam ernsthafte Zweifel und werden nervös. Nun gibt es kein Taktieren mehr und Longo wird vor der allerletzten Kurve 400 Meter vor dem Ziel doch noch gestellt und überholt. Ljungskog hat die meisten Körner übrig, gewinnt den Sprint und verteidigt ihren Titel. Longo geht als 6. über die Linie, noch vor der zweiten Verfolgergruppe. War die Mühe also umsonst? Man stelle sich vor, Longo wäre Weltmeisterin geworden, hätte alle anderen gedemütigt, die halb so alt sind. Man hätte sich ernsthaft fragen müssen, was schief läuft im Frauenradsport. Ihre Aktion hat zumindest gezeigt, was Erfahrung und ein sicherer Instinkt für den richtigen Zeitpunkt ausmachen können. Hätten die anderen sofort reagiert oder konsequent gekreiselt - die Flucht hätte keine 5 Minuten gedauert. So aber bleibt zumindest die Erinnerung an ein denkwürdiges Rennen.