April 2022: Nach 18 Jahren Betrieb zeigte das alte Stadtrad ernsthafte Schwächen, die sich nicht mehr wirklich beheben ließen, so dass eine Neuanschaffung sinnvoll erschien. Unser langjähriger Radladen des Vertrauens (bikeline) hat dafür voll ausgestattete Räder der Marke "Contoura" vor Ort: Für ca. 2.500 Euro bekommt man alles, was man braucht in guter Qualität, also beispielsweise ein Gravelrad mit Stahlrahmen, GRX-2fach, Schutzbleche, Gepäckträger, Licht, Ständer (s. Modell "fe-14") – wirklich gut gemacht, eigentlich perfekt. Allerdings ließ mich das Gefühl beim Anheben des Rads ahnen, dass ich offenbar zu anspruchsvoll geworden bin. Selbst das alte Rad schien mir deutlich leichter zu sein (nachgewogen: 11,5 kg). Also selbst aufbauen, denn wenn man an allen Komponenten einige Gramm spart, kann das Rad am Ende mehrere Kilogramm leichter sein. Der Anspruch war, trotz heutzutage obligatorischer Scheibenbremsen das alte Rad zu unterbieten. Das hätte natürlich seinen Preis, schon klar.
Unser Auge fiel daher auf die Rahmen der Custom-Hausmarke "Pasculli". Da kann man sich in Stahl, Alu oder Carbon alles nach Maß bauen lassen, aber einige Rahmen hängen immer fertig im Regal. Das "Angelone" ist ein Aluminium-Gravelrad mit Carbongabel und den meisten Anbauösen, die man für ein Stadt- oder Reiserad benötigt. Größe L (Oberrohr 56 cm) schien perfekt und entspricht gut meinen bisherigen Rennrädern. Dazu ein tiefdunkles blau mit mittelblauen Akzenten – das wäre schonmal eine gute Grundlage ohne Kompromisse und für ein Stadtrad im besten Sinne unauffällig.
Da zur Zeit alles etwas schwierig zu bekommen ist (Stichworte Corona und Ukraine) beschloss ich, die Laufräder selbst aufzubauen. Alle Komponenten dafür ließen sich online ab Lager bekommen, in diesem Fall Felgen, Speichen, Nippel und Hinterradnabe von DT Swiss sowie ein Nabendynamo von SON. Die beiden Felgen (vorn eine RR481 mit 22 mm Maulweite, hinten eine GR531 mit 24 mm Maulweite) sind leicht und super präzise gefertigt, so dass das Einspeichen bis zu den benötigten hohen Vorspannungen richtig Spaß macht. Das Vorderrad ist also etwas filigraner ausgesucht als das Hinterrad.
Offenbar sind von Lieferschwierigkeiten vor allem die preiswerteren Komponenten und Verschleißteile betroffen, die in großer Zahl nachgefragt werden. Alles, was etwas hochpreisiger ist (also mindestens "Ultegra"- oder "XT"-Niveau), war ohne Lieferzeit erhältlich. Ein paar Teile wurden vom alten Rad übernommen, darunter der wunderschöne Tubus-Edelstahl-Gepäckträger. Bikeline hat am Ende alles professionell und mit Liebe zum Detail zusammengesetzt. Nach 3 Wochen war die Sache über die Bühne, nicht schlecht für ein Custom-Rad. Natürlich kommt man auf diese Weise nicht billig weg, der Gesamtpreis liegt bei 5.000,- Euro. Das ist eine Menge Geld für ein Rad mit Alu-Rahmen, doch es ist immer etwas teurer, wenn man jedes Einzelteil penibel aussucht und im Zweifelsfall immer die bessere Variante nimmt.
Wie fährt es sich? Wie ein richtiges Rennrad. Die Geometrie entspricht einem Straßenrenner, das Gewicht ist trotz Vollausstattung und Serien-Komponenten nicht weit darüber (10,5 kg ohne Schloss) – das passt und fühlt sich auf Anhieb gut und schnell an! Es klappert nichts im Rahmen, das Pressfit-Innenlager knackt nicht, die Sattelstütze gleitet präzise in den Rahmen, das spricht für erfreulich geringe Fertigungs-Toleranzen.
Der mechanische GRX-Schalthebel für die 11 Ritzel hat kürzere Schaltwege als alles, was ich vorher an Ultegra und Dura-Ace kannte. Ist das Schaltwerk etwas lose eingestellt, dann findet beim Schalten in den längeren Gang der Schaltvorgang schon beim Reindrücken des Hebels statt und nicht erst, wenn man den Hebel wieder loslässt. Das ist ungewohnt und führt zu vorzeitigen Schaltvorgängen, peinlich. Ist die Schaltung korrekt straff eingestellt, passiert das nicht oder jedenfalls nicht so häufig. Wenn man mehr als 20 Jahre gewohnt war, dass der Gang immer dann schaltet, wenn man den Hebel loslässt, dann muss man ernsthaft am Feintuning arbeiten. Die neue Schaltweise ist natürlich näher dran am Verhalten der elektrischen Di2-Schaltungen, das macht durchaus Sinn. Interessant ist aber, dass dieses Verhalten (soweit ich weiß) nie thematisiert wird. Man darf gespannt sein, ob es die GRX 800 noch als mechanische Gruppe geben wird, wenn sie auf 12fach upgedated wird – ich würde das begrüßen (Update Ende 2023: ja, es gibt eine mechanische 12-fach-GRX, siehe Gravelrad.
Die 11-34-Cassette 11fach ist ungewohnt gestuft: Sie steht vom Konzept zwischen Rennrad und MTB, ich würde das Gravel nennen ;-) Am langen Ende gibt es keine 1-Zahn-Sprünge wie bei einer Rennrad-Cassette, dafür bis in den kurzen Mittelbereich nur 2-Zahn-Sprünge, also dort, wo man meistens unterwegs ist. In der Praxis fühlt sich das überraschend gut an, sowohl ohne Gepäck als auch mit schweren Taschen. Für eine Radreise wäre eine kleinste Übersetzung von 42/34 sicherlich etwas zu lang, aber das ist eine andere Sache, man könnte dafür z.B. eine 11-42-Cassette montieren.
Als mittlerweile etwas älterer und natürlich konservativer Fahrer fremdele ich immer noch ein wenig mit der flächendeckenden Verbreitung der Scheibenbremsen. Aber seien wir ehrlich: Die Felgenbremsen haben ausgedient, es ist vorbei. Im Gelände war es bereits klar, aber die neuesten Scheibenbremsen sind so gut, dass der Abschiedsschmerz kleiner wird. Gerade an einem Stadtrad, mit dem man jeden Tag bei Wind und Wetter unterwegs ist, bleibt der Verschleiß auf die Bremsen selbst beschränkt, statt immer wieder die Felgen wegzuschleifen so dass man die Laufräder neu einspeichen zu muss. Die sog. "Servo-Wave"-Technik sorgt dafür, dass die Bremsbeläge im offenen Zustand nicht schleifen, aber zum Bremsen mit wenig Kraft und Hebelweg sofort anliegen und wetterunabhängig definiert verzögern – das ist schon sehr schön. Quietschen bei Nässe gab es bislang auch nicht.
Auch die Lichtanlage ist natürlich einen Kommentar wert. Ein SON deluxe-Nabensynamo im Vorderrad speist zwei hochwertige Busch&Müller-Lampen, nämlich den IQ-X-Scheinwerfer und ein Toplight Line mit Bremslicht. Der SON deluxe ist eine Variante von Schmidts Original Nabendynamo mit weniger Spulen (daher leichter und weniger Widerstand) und daher für schnelleres Fahren bzw. sehr effiziente Scheinwerfer ausgelegt. Wenn ich während der Fahrt das Licht ein- oder ausschalte, merke ich bezüglich Fahrwiderstand gar nichts. Man kann den Scheinwerfer daher automatisch zwischen aus, Tagfahrlicht und vollem Nachtlicht wählen lassen. Und ja, 100 Lux Licht sind wirklich eine Erleuchtung. Man sollte sich in jedem Fall die Mühe machen, die Neigung des Scheinwerfers sauber einzustellen, so dass niemand geblendet wird.
Ja, ich bin nach ein paar Hundert Kilometern ziemlich begeistert und bereue nichts. Das charakteristische Freilauf-Knattern der DT240-Nabe spart die Klingel. Alles weitere werden die kommenden Jahre noch zeigen...